Kommentar zu den bisherigen Reaktionen

Dieser Kommentar erschien im April 2021 gemeinsam mit einer Dokumentation der Ereignisse als Chronik und bezieht sich auf den damaligen Stand.

Wir möchten eine Trigger Warnung vorwegstellen. Folgender Text thematisiert sexuelle/sexualisierte Gewalt. Bitte überlege daher, bevor du weiterliest, ob du dich gerade dafür bereit fühlst. Vielleicht kannst du es mit anderen, vertrauten Menschen gemeinsam lesen oder dich danach mit Menschen austauschen.

Diese Chronik ist keine abgeschlossene. Wir befinden uns immer noch mitten im Aufarbeitungsprozess und die Chronik zeigt, wie wenig bisher dafür getan wurde. Diese Dokumentation soll daher als Gedächtnis und Mahnung dienen. Sie stellt einen Ausschnitt der Jenaer Bewegungsgeschichte dar, der nicht im Laufe der Zeit unter den Teppich gekehrt werden darf. Wir dürfen ihn nicht als Ausnahme behandeln, sondern müssen ihn als traurige Normalität begreifen.

Bereits Anfang 2020 wurden ein sexueller Übergriff im Hausprojekt „Juwel“ in Gotha und voyeuristische Übergriffe in Erfurt bekannt. Keinen dieser Fälle können wir als Einzelfall abtun. Es handelt sich um ein strukturelles Problem, an dem wir alle beteiligt sind als Freund*innen, Genoss*innen, als Orte und Strukturen. Orte und Strukturen, in denen Frauen* offenbar nicht sicher sind. Die bisherigen Outcalls sind nur die Spitze des Eisberges und es braucht nachhaltige, langfristige Aufarbeitung, um sexueller Gewalt in der Szene den Kampf anzusagen.

Die bisherigen Reaktionen innerhalb der Szene in Folge der Outcalls fielen enttäuschend aus. Trotz einiger, weniger Impulse kam kein ernstzunehmender Aufarbeitungsprozess zustande. Die Betroffenen selbst mussten immer wieder mahnen. Dies sollte nicht ihre Aufgabe sein müssen und sollte uns in unserer Verantwortung schwer zu denken geben. Nach alledem dürfen wir nicht länger in Ignoranz und Handlungslosigkeit verharren.

Schockierend ist die geringe Anzahl von Solidaritätsbekundungen. Öffentlich oder szeneöffentlich liegen uns nur wenige vor, die sich explizit auf den Jenaer Outcall im August beziehen – keine davon stammt von einer dezidierten Politgruppe aus Jena, eine sogar vom Freundeskreis des Täters. Dieser Umstand gibt ein trauriges Zeugnis sowohl von der Minimalbereitschaft zur Auseinandersetzung mit Sexismus und Übergriffen in der Szene als auch vom Organisierungsgrad der Linken in Jena.
Auch fehlende aktive Solidarisierung bedeutet Entsolidarisierung mit den Betroffenen!

Zum Saalfelder Outcall wurden teils fragwürdige Statements von den in die Vorfälle verstrickten Orten veröffentlicht. Dazu kamen Soli-Erklärungen aus anderen Städten Thüringens, die mitunter auch auf den Jenaer Outcall Bezug nehmen, und interessanterweise ein Reaktionsschreiben von „einigen Linken aus Jena“, die zum Jenaer Outcall jedoch schweigen.

Neben den hier dokumentierten Statements gab es eine Reihe von Re-Posts der Statements auf social media-Kanälen (wie beispielsweise im Falle einer selbst an einem internen Aufarbeitungsprozess gescheiterten Basisgruppe in Jena), die wir hier bewusst nicht festhalten, da sie keine eigenständigen politischen Aufarbeitungsbemühungen darstellen.

Der szeneöffentliche Diskurs wurde im vergangenen Jahr von der Debatte um die „Antipatriarchale Männergruppe Jena“ dominiert. Dabei sind die Outcalls und damit verbundene Geschehnisse zusehend aus dem Blick geraten. Am wohl aktivsten bearbeitet wurde das Themenfeld von den „Falken Jena“, jedoch ohne ein Wort der Solidarisierung mit den Betroffenen oder der Thematisierung der konkreten Übergriffe. Es schien so, als liege der Fokus deutlich auf der Kontrolle und Kritik an der „Antipatriarchalen Männergruppe“, die sich im Zuge der FLINT*-Demo „Gegen patriarchale Gewalt“ gründete. Während der intellektualisierte Diskurs sich zunehmend um Täterschaft und Männlichkeit drehte, wurden Betroffenenperspektiven unsichtbar.

Natürlich braucht es mehr als warme Worte der Solidarität. Nachdem die besagte Demo und der Aufruf an Männer zur Selbstreflexion in der Szene für Aufsehen gesorgt hat und es kurz so schien, als würde ein Prozess anlaufen, führten Selbstsabotage und Abwehr leider zum Scheitern. Dieses Scheitern zu analysieren, um daraus zu lernen, muss und wird unsere Aufgabe sein.

Auch erfreulichen Einzelprozessen war zum Teil anzusehen, dass Wissen zum Umgang mit sexueller Gewalt in der Szene beschränkt ist. Was es braucht, sind Workshops, Skillsharings und der Austausch mit anderen Strukturen, von deren Erfahrungen wir lernen können. Es braucht präventive Vorkehrungen in unseren Strukturen, interne und gemeinsame Auseinandersetzungen. Und nicht zuletzt braucht es verlässliche politische Strukturen, um einen langfristigen Prozess überhaupt möglich zu machen.

Wir rufen hiermit die Jenaer Linke Szene dazu auf, nach Elementen der Aufarbeitung zu suchen. Es gilt, gemeinsam zu überlegen, was nötig und möglich ist. Wir selbst werden uns als Gruppe intern mit verschiedenen Aspekten auseinandersetzen und unsere Überlegungen mit euch teilen.

Uns ist bewusst, dass es keine einfache Lösung gibt und Scheitern auch immer Teil des Prozesses sein wird.
Ernsthafte Aufarbeitung wird und muss unbequem sein. Das darf uns jedoch nicht davon abhalten, etwas zu tun – denn nichts zu tun, ist keine Alternative, wenn die Zustände unaushaltbar sind.

So wie es ist, darf es nicht bleiben.

Solidarität mit den Betroffenen sexueller Gewalt!

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